Schulprojekt "Fliegendes Künstlerzimmer" Zwischen Eigeninitiative und reinem Abenteuer

von Silke Hohmann | Kunstkritikerin und Journalistin am 05.05.2023 online erschienen im Monopol Magazin

www.monopol-magazin.de/das-fliegende-kuenstlerzimmer

Foto©Christof Jacob

Schulprojekt

Laudation zur Ausstellung kopfüber

im archiv massiv,
Baumwollspinnerei Leipzig,
am 30. April 2023

von Dr. Sara Tröster Klemm
Kunsthistorikerin und Autorin | Leipzig

Herzlich willkommen zur Eröffnung der Ausstellung kopfüber von Christina Wildgrube, der Preisträgerin der Jahresausstellung 2021! Ich freue mich sehr, über ihre Kunst sprechen zu dürfen.

Zuallererst möchte ich meine Begeisterung darüber ausdrücken, dass die Ausstellung hier im archiv massiv stattfindet – es ist einfach ein toller Ort. Aber nicht nur der Ort ist besonders, auch die gezeigten Werke sind alles andere als gewöhnlich, denn die hier gezeigten Werke sind zwar alles Drucke, sie teilen sich aber in zwei ganz unterschiedliche, gegensätzliche Techniken: Zum einen sehen wir Monotypien und zum anderen Handsatzarbeiten.

Während die Monotypien in der Herstellung „wie ein Rausch“ seien, so die Künstlerin, so verlangen ihr die Handsatzarbeiten sehr viel Handarbeit und Geduld ab. Im Folgenden möchte ich zuerst ihre Arbeit mit der Monotypie und dann die der Handsatzarbeit erklären. Doch zunächst einmal zum Titel kopfüber: Christina Wildgrube zeichnet ganz oft kopfüber, weil sich dadurch die Proportionen und die Wahrnehmung verschieben – die Perspektive ist eine ganz andere. Auf einmal wirkt der Himmel viel größer … Auch beim Druck geschieht vieles kopfüber: Das Papier wird kopfüber auf den Satz gelegt, die Lettern werden wiederum kopfüber eingesetzt ...

Das Bild mit Ingeborg Bachmanns Text hing damals bereits zur Jahresausstellung – es harmoniert mit der österreichischen Schriftstellerin nicht nur ausgezeichnet mit dem Thema der aktuell laufenden Buchmesse, sondern auch durch den Titel und das Thema des Gedichtes Nach der Sintflut*:

Nach dieser Sintflut
möchte ich die Taube,
und nichts als die Taube,
noch einmal gerettet sehen.
Ich ginge ja unter in diesem Meer!
flög’ sie nicht aus,
brächte sie nicht
in letzter Stunde das Blatt.

Dieses Gedicht passt einfach so gut zu vielen aktuellen Themen und scheint so universell gültig für heftige Krisenzeiten, egal ob es sich dabei um gesellschaftliche oder persönliche Krisen handelt. Universell gültig erscheinen auch die Themen von Christina Wildgrubes Arbeiten, sowohl den hier gezeigten Monotypien, als auch den Handsatzarbeiten, bei welchen sie einerseits das Meer, und andererseits das Gebirge in Szene setzt. So abstrakt die Monotypien wirken mögen, so sind sie doch erstaunlich exakte, wenngleich stark abstrahierte Darstellungen unter anderem von Gebirgszügen aus dem Schweizer Graubünden, aus der Region Lugnez, bündnerromanisch heißt es Val Lumnezia. In einer anderen Monotypie fing sie das Flussbett der Isar ein und malte die junge Isar mit fast ornamentalen, unglaublich dynamischen Wasserwogen.

Die Künstlerin arbeitet immer nach realen Orten, sie zeichnet vor Ort, spiegelt die Zeichnung dann und malt anschließend in der Druckwerkstatt mit dem Pinsel frei und fließend auf die Druckplatte aus Zink oder Kupfer.

Alle in der Ausstellung gezeigten Monotypien sind mit Aquarellfarbe gemalt. Teilweise mischt sie die Farbe selbst mit Pigmenten und Gummi Arabicum an. Das Bild wird einmal gedruckt und ist somit ist jeweils ein Unikat, mit dem Restdruck liefert es aber gleichzeitig die Vorlage für den nächsten Druck.

Auch die Handsatzarbeiten entstehen nach realen Orten, so finden sich in der Ausstellung unter anderem Darstellungen von Venedig, zum Beispiel in den beiden Bildern Sant‘ Erasmo I und II. Bild I besteht aus Punkt- und Linienraster, Bild II ist mit der Rückseite der Druckplatte und damit spiegelverkehrt und viel kräftiger gedruckt, da aus den Punkten und Linien kleine Rechtecke wurden. Kopfüber zieht sich eben wirklich durch die ganze Ausstellung!

Mit ihrer spezifischen, unglaublich aufwändigen Technik erzielt Wildgrube schwer begreifbare, dafür umso stärker wirkende, tiefe Effekte und raffinierte Farbspiele. Für die hier gezeigten Handsatzarbeiten verwendete sie sogenannte Strichlinienraster, welche unterschiedlich dick oder dünn sein können. Regelmäßig arbeitet sie im Museum für Druckkunst und mit Thomas Siemon zusammen. Mit Zierelementen, mit Ornamenten baut sie sorgfältig abstrahierte Darstellungen des Meeres auf, dann kommt die Farbe drauf, worauf der nächste Arbeitsschritt folgt, nämlich die Versetzung einzelner Linienelemente – dadurch erzielt sie den unvergleichlich tiefen und geheimnisvollen Eindruck ihrer Bilder – die Nebelland heißen, Nebelmeer oder Rückkehr.

Christina Wildgrube fühlt sich besonders vom Segeln, vom auf dem Meer sein, dem Horizont und der ständig wechselnden Oberfläche des Wassers inspiriert. Das taucht sehr oft in ihren Arbeiten auf. Ein Bild in dieser Ausstellung stammt von Jörg Ernert, als Gastbild quasi, weil er sie für den Preis vorgeschlagen hatte. Hiermit möchte ich Christina Wildgrube noch einmal ganz herzlich zum Preis der Jahresausstellung gratulieren – wohlverdient, wie ich finde. Eine sehr gute Juryentscheidung. Nun wünsche ich Ihnen ganz viel Freude und Sehgenuss bei der Betrachtung der Bilder. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

*Ingeborg Bachmann: „Nach dieser Sintflut“. Aus: Werke, Bd.1. Gedichte. © 1978 Piper Verlag GmbH, München

Landgewinn, kopfüber

von Dr. Stefan Soltek
Wissenschaftlicher Berater Stadt Offenbach am Main | Klingspor Museum

Hier sind oben und unten relative Worte des Augenblicks ... (Johann Wolfgang von Goethe, Briefe aus der Schweiz, 9.11.1779)

Typisch ... wer sie vor sich sieht und hört, wie sie ruhig, bedacht, zögernd allmählich in Selbstsicherheit wandelnd, von ihrem Werdegang erzählt, wird ihrer Erläuterung mit Sympathie begegnen: Sie habe an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB Leipzig) vor der „großen“ Malerei auf Leinwand Abstand halten und sich viel lieber dem stilleren Metier der Setzerei und des Druckens annehmen wollen. Also Handsatz und seitenweise Text? Nein. Ihre Liebe zum Bildnerischen bleibt erhalten und findet eine allerdings sehr spezifische Art der Umsetzung. Nicht, dass nicht früher schon diese Herangehensweise bekannt gewesen wäre – im Klingspor Museum fallen einem spontan Käthe Steinitz (Buchentwurf Billy, New York 1936), Uta Schneider und Ulrike Stoltz (Linienbuch, Offenbach 1987) oder Corinna Krebber (Schriftblüten, 2015) ein. Indes, was Christina Wildgrube vor Augen führt, hat eine andere Qualität. Sie führt nicht das Setzmaterial zu einer bildnerischen Annäherung an Landschaft, sondern lässt umgekehrt ihre präzise Bildvorstellung von einer bestimmten Landschaft und deren Atmosphäre mit großer Umsicht in den von ihr gewählten technischen Mittel wirksam werden.

Später wird sie eine zweite, kaum minder eigenwillige Art des Druckens für ihre Belange des Bildnerischen adaptieren. Die Monotypie. Vom 17./18. Jahrhundert an bis in die Gegenwart, von Giovanni Benedetto Castiglione und William Blake bis hin zu Ulrike Theusner und Carroll Dunham, reicht eine lange Tradition jenes Verfahrens, dessen Art des (Ab)Druckens so enorm malerische Unmittelbarkeit ausströmt. Christina Wildgrube profitiert von intensiver Anschauung, so zuletzt in der Ausstellung in der Städtischen Galerie Wolfsburg (‚Surprise, Die Kunst der Monotypie‘, 2022). Minutiös trägt sie mit dem Pinsel Zug um Zug Farbe auf einer Metallplatte auf, bis sie für den einmaligen Abdruck taugt, indem die auf der Platte genau zubereitete fragile Nuanciertheit des Pinselstrichs auf das Papier übergeht. Auch hierbei entstehen Formationen, die den Charakter von Landschaft aufweisen.

Die Künstlerin geht seit jeher Wege, die ihre Blicke in ihre Umgebung schärfen. Wege, die ihren Anreiz wecken, genau hinzuschauen. Auf das Große und Ganze wie auf die kleinen Dinge im Einzelnen. Wie sich Land formiert, wie es angrenzt an Wasser, an Himmel, wie sich eben diese im Nebeneinander zeigen, das Wasser also am Horizont vor der Luftschicht, oder auch: wie das Land sich hügelig, bergig aufwirft, Grate und Hohlkehlen bildet, über und in denen Wasserläufe talwärts fließen – immer aufs Neue zeigen sich Begegnungen in der Natur, die dafür offenen Augen reich facettiertes Neuland eröffnen.

Ihre sorgsame Art abzutasten, was sie entdeckt, korrespondiert mit einem versierten technischen Vermögen, das sich im Lauf ihrer Ausbildung entwickelt hat. Grafisches Freisetzen der Andeutungen, die ihrer Wahrnehmung folgen. Mit feinem Gespür profiliert sie ihre Fähigkeiten an der Grenze zwischen dem grafischen Anordnen und dem malerischen Gestus, ihren Sense für Landschaftsinszenierung.
Es ist das Dahin-, Darauf-, das Darein-Schauen, das in eine Entscheidung übergeht, bemerkenswert zu sein und sich zu einer Landschaft zu formen. Landschaft ist Land schaffen. Mag die Natur Werk einer Schöpfung oder eines Entstehens sein und somit ein Dasein führen – zur Landschaft wird sie erst mit dem Menschen, der sie als Angelegenheit seines Anschauens zur Ansicht erhebt; der sie Kriterien seiner Beurteilung unterzieht, sie mehr oder weniger weitläufig oder eng empfindet, der sie einladend oder hermetisch befindet, reizvoll oder gleichförmig, gar langweilig ...
Erst allmählich gewinnt Landschaft als Phänomen der Kunst ihren Stellenwert. Zunächst geht die Figur vor, oftmals vor einer tendenziell indifferenten Fläche im Hintergrund hinterfangen. Der Goldgrund als idealisierende Unterstreichung tritt – das gilt für die Altarmalerei – erst im Lauf des gotischen Mittelalters zurück und macht der Ansicht von Stadt, dann auch Land, Platz. Die Buchmalerei erschließt sich im Spätmittelalter zunehmend den Blick in die Tiefe des natürlichen Umraums. Figuren mit Bedeutung werden Teil einer gebundenen Erzählung von Begebenheit mit einer Einbettung in Raum (und Erzählzeit).
Die Überschaulandschaft kehrt die Verhältnisse um. Joachim Patinier räumt der Landschaft so viel Gewicht in seinen Bildern ein, dass die figürliche Szenerie nurmehr als Staffage anzusehen ist. Kein Geringerer als Albrecht Dürer anerkannte die neue Art des Niederländers, extremen Überblick über eine idealiter zusammengefügte Landschaft ins Bild zu setzen. Er nannte ihn, in seinem Tagebuch 1521, explizit einen guten Landschaftsmaler und gab damit dem Sujet des Malens quasi nach der Natur seine Gattungsbezeichnung.
Es ist hier nicht der Platz, die weitere Entwicklung über Meister wie Jakob Ruisdael, Caspar David Friedrich, William Turner oder Paul Cezanne und viele andere zu verfolgen. Erwähnt sei aber, dass es im Lauf des 18. Jahrhunderts zur Verwendung eines sogenannten Lorrain-Spiegels (auch: Claude Glas) kam. In Anspielung auf Claude Lorrain und seine idealtypischen Landschaften bezog man einen Handteller großen Rahmen mit einer Gaze, durch die man sich Ausschnitte seiner Naturbetrachtung suchte und diese als ästhetisch relevante Parzellen ausmachte. Zweifellos ist die Landschaft ein Motiv, die Weite von Wasser und Land, die Tiefe und Höhe der Täler und Berge auszuloten, sich darin aufgehen zu fühlen oder auch eine gewisse Verlorenheit zu erfahren.

Mit Nicolas Poussin und Claude Lorrain verbindet sich die Erkenntnis des Landschaftsgrunds als Terrain der eigenen Daseinserfahrung. Das et in arcadia ego (auch ich in Arkadien – so viel wie: auch im Idyll Arkadien gilt die Notwendigkeit des Endlichen) gibt der Hoffnung Ausdruck, in der überwältigenden Natur eine schützende Behausung auch im und über den Tod hinaus zu haben.

Viel früher schon war es Francesco Petrarca, der sich als einzelner Mensch der Über-Weltigung ausgesetzt sieht. Seine berühmte Besteigung des Mont Ventoux am 26. April 1336, die ihn immense Kraft kostet, führt keineswegs zu einer einzigen Lobpreisung der Landschaft, die sich weit vor ihm auftut. Vielmehr verleiht ihm der Blick in die Ferne den Impuls, in seine nächste Nähe, seine Seele, zu blicken. Unterstützt wird dies, als er wie beiläufig in seine Soutane greift und sein Exemplar der Confessiones des Augustinus ergreift. Und daraus die Aufforderung entnimmt, das eigentliche Sehen auf die eigene Seele zu lenken – und in ihr Gott zu erfahren. Gehört das hierher, zu den Druck-Bildern Christina Wildgrubes? Was macht sie in dieser Hinsicht ähnlich?

Ihre Bildschöpfungen nehmen durchweg Abstand von einer Feier und Lobpreisung verführerischer Schönheit im Profil der Landschaft. Sie suchen nicht danach sich aufsaugen zu lassen, sondern halten einen nach Form und Farbe erklärten Abstand. Die Unterschiede der Sujets und der technischen Machart verdecken diese Zusammengehörigkeit nicht. Ja, die aus Linien, Schmuck und Ornamenten des Bleisatzes gebauten Bilder sind in die Totale tendierende Abgleichungen eines großen und ganzen Gefüges. Ihre Monotypien hingegen haben vielfach ein markantes Annähern an den Ausschnitt. Und doch: Auch diese vordergründige Nähe sinnt auf Reflex. Das gelingt insbesondere auch dadurch, dass sie eine dezidiert „unnatürliche“ Haltung beim Zeichen einnimmt. Sie beugt sich nach unten, lehnt sich über eine Bank, eine Turnstange oder blickt rückwärts durch die Beine hindurch nach hinten und oben. Wie speziell, wie eigen muss der Bildausschnitt und jede Proportion ausfallen. Wie könnte es drastischer zu einem Re-Flex kommen, wie könnte ein „kopfüber“ NICHT zu einem Paradigmenwechsel am Ich der Betrachterin führen. Wie könnte nicht eine prinzipiell ähnliche Erfahrung, wie sie Petrarca macht, die Konsequenz sein.

Christina Wildgrubes Landschaften sind kein Voyeurismus des eigenen Innenlebens. Aber sie binden die Erwägungen des Gemüts, der Lebens-Atmung mit ein, wenn sie die Facetten des sie umgebenden Geländes ermessen.

Ob es ihr ähnlich geht wie Johan Coaz, der 1850 als erster Mensch (von dem man weiß) den Gipfel des Piz Corvatsch bestieg und dazu schrieb:
„Ernste Gefühle ergriffen uns. Das gierige Auge schweifte über die Erde bis an den weiten Horizont und tausend und abertausend Bergspitzen lagerten sich um uns, felsig aus glänzenden Gletschermassen emportauchend. Erstaunt und beklommen sahen wir über diese großartige Gebirgswelt hin.“ (John Kaag, Wandern mit Nietzsche, 2022, S. 14)

Wildgrube betont zwar die Stärke ihrer Eindrücke, doch die Künstlerin hat weniger Pathos im Auge als ein gezieltes Filtern. Ihre Skizzenbücher – die Fotografie ist ihr zu allumfassend – zeigen auf, wie sie kalkuliert; wie das Zeichnerische auf Aspekte des Bildnerischen mehr eingeht als eine Szenerie in der Fülle ihrer Emotion fördernden Details zu berücksichtigen. Immer wieder ist die Bildung von Kontrasten im Mittelpunkt. Diese entstehen aus einer dezidierten Angrenzung von Parzellen, die nicht verschliffen, sondern markant ein Nebeneinander behalten. Schraffuren bilden die Akzente.

Diese Beobachtung hilft, in den Druckwerken unterschiedlicher Technik das Verbindende zu erkennen. Die subtile Konstrukteurin gibt sich zu erkennen, die über ihrer minutiösen Prozedur des Zueinander-Stellens einzelner Partien immer doch eine Einheit zu schaffen versteht, die eine Atmosphäre des Landschaftlichen hervorbringt. Was das Wechseln der Linien und Regletten in den gesetzten Kompositionen leistet, vermag sich auch im malerischen Angrenzen von Farben, flächig und doch Ränder ausbildend, zu äußern. Die fein nuanciert sich ansammelnden Partien ahmen Wellen und Furchenverläufe, Wolkenkonturen, Bergkämme, lichte und schattige Hebungen und Senkungen in der Natur nach; aber doch nur so weit, wie sich ein autonomes Bild-Fügen behauptet.

Drucken definierte der Schweizer Kunsthistoriker Beat Wyss als die Einprägung einer Idee in Papier. Diese Äußerung schreibt der vom Schrittweisen bestimmten Technik ein erhöhtes Maß an Planung und Umsetzung zu, die sich zwischen dem Handwerklichen und dem geistig-empfindenden Steuern gleichsam dialogisch zuträgt. Die Arbeitsweise, die Christina Wildgrube entfaltet, trägt diesem Moderationsvorgang in hohem Maß Rechnung. Den Standard des Technischen zu erweitern, im Geringsten Wesentliches aufzuspüren, macht die Qualität ihrer Arbeit aus. Ihre Begegnung mit der Natur geschieht überlegt, Nähe und Distanz zu ihr wohlweislich abwägend. Die Palette zwischen Blau und Grau unterstützt dies. Sie holt die Natur geradezu grundsätzlich ab, hält ihr aber den Spiegel, den Wildgrube-Spiegel, entgegen und geht seinen Filtern akribisch auf den Grund. So verblüffend wie stimmig als Ergänzung fällt jene sublime Bucharbeit aus, die die Künstlerin während eines Studienaufenthalts in Chicago angeht. Die Phalanx der Hochhäuser, aber auch kleine Ausschnitte der gebauten Anordnungen erkennt sie als Parallelen zu grafisch-typografischen Setzungen. Zu Satzzeichen (Bindestrich u.a.), zu Buchstaben und Buchstabenfolgen. Ja, die Stadt gerät zum Schrift-Raum, die BewohnerInnen, der Häuser – wenn sie z. B. Licht einschalten – werden zu Koautoren von Texturen, die als monumentale Lesestätten einer umfassenden, gesellschaftlichen Autorschaft entdeckt werden. Typografie und Topografie – eines „anstadt“ des anderen. Zivilisierte Landschaft der schwergewichtigen Art einer Großstadtbebauung.

Daniel-Henry Kahnweiler stützte seine Betrachtungen zu den Entwicklungen des Landschaftsbildes von Paul Cezanne zu Georges Braque und Pablo Picasso – 1909 in Horta gelang ihm ein wesentlicher Durchbruch zur Bebauung seines Terrains mit kubischen Elementen – auf eine Feststellung, die Friedrich Hölderlin (Der Tod des Empedokles, ab 1797) traf: „Natur und Kunst sind im reinen Leben nur harmonisch entgegengesetzt, die Kunst ist die Blüte, die Vollendung der Natur, Natur wird erst göttlich durch die Verbindung mit der verschiedenartigen, aber harmonischen Kunst“. Hätte er angesichts der Drucke von Christina Wildgrube anders formuliert? Gestaunt hätte er gewiss.

Dr. Stefan Soltek
Wissenschaftlicher Berater → Stadt Offenbach am Main | Klingspor Museum

Literatur:
Zur Technik und Entstehungsgeschichte der Monotypie: Norbert Weber, Kiel 2012, Hausarbeit zur Erlangung des Magister artium an der Universität Kiel http://nordcult.org/Nordcult/Monotypie_02082012.pdf;

Zur Ausstellung über die Monotypie in Wolfsburg „Surprise. Die Kunst der Monotypie“: https://www.art-in.de/ausstellung

Gertrude Berthold, Die Kunst Cézannes als Seminar, in: Argo. Festschrift für Kurt Badt, Köln 1970, S. 364 – 385;

Simon Shama, Landschaft und Erinnerung, in: Kultur & Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung, Reclam Universal Bibliothek, Stuttgart, 1998, S. 242 – 263;

Erwin Panofsky, Et in arcadia ego. Poussin und die Tradition des Elegischen, in: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 1975 (1955), S. 351 – 377;

Daniel Henry Kahnweiler, Der Gegenstand der Ästhetik, München 1971, S. 60f; Heinrich Wölflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, Basel 1976, S. 118ff;